“Was ist Autismus”? Etwas nervös tippte ich die Worte in Google auf meinem Smartphone. Die vorangegangenen Monate hatten meine Frau und ich damit verbracht, herauszufinden, warum unser zweijähriger Sohn sich offensichtlich so merkwürdig benahm. Hinzu kam, dass er mit zwei Jahren immer noch nicht sprechen wollte bzw. konnte.
Da saß ich also, ratlos, ungeduldig und etwas verzweifelt. Nach zahlreichen Besuchen beim Kinderarzt, Monaten der Ungewissheit – und der Sorge.
Meine Frau kam gerade von einem Gespräch mit einer Logopädin, mit der wir zugleich gut befreundet sind. In den letzten Wochen hatte sich mehrfach angedeutet, dass die Verhaltensauffälligkeiten unseres Kindes möglicherweise auf eine “Autismus Spektrum Störung” hindeuteten.
Je mehr wir uns mit der Frage beschäftigten, umso klarer schien die Antwort. Wir begannen offen darüber zu sprechen. “Möglicherweise hat er tatsächlich Autismus”, waren unsere Worte. Insgeheim klangen sie wie eine Frage. Und wir suchten nach Antworten.
Was Google mir anzeigte war natürlich als erstes eine Wikipedia-Seite zum Schlagwort Autismus. Ich las und versuchte zu verstehen. Doch wirklich weitergeholfen hat es mir in diesem Moment nicht.
Einige der Autismus Symptome in dem Artikel kamen mir bei meinem Sohn bekannt vor. Doch wollte ich nicht so recht mitmachen: “Mein Sohn soll ein Autist sein?!”, dachte ich mir heimlich.
Ich war wütend und verzweifelt und dennoch fühlte ich merkwürdigerweise etwas Besonderes dabei. Schließlich bot mir der Begriff eine mögliche Erklärung. All die merkwürdigen und eigenartigen Erlebnisse schienen nun eine Erklärung zu haben.
Wo gibt es Antworten?
Was mir jedoch neben dem sperrigen Wikipedia Artikel schnell auffiel:
Es gab (und gibt immer noch) viel zu wenig wirkliche Hilfen für Eltern, die wissen wollen, was möglicherweise mit ihrem Kind los ist. Eltern, die Orientierung suchen und die in einer solchen Situation eigentlich hören müssten:
“Hey, du bist nicht alleine! Es gibt Tausende, Millionen so wie Du und Dein Kind! Ja, es ist unglaublich anstrengend und wird Dich mehr kosten, als Du Dir vorstellen kannst. Aber Du wirst dabei lernen, der Vater / die Mutter zu sein, die Dein Kind braucht! Es wird durch Dich lernen, in dieser Welt gut zurecht zukommen! Und ja, es gibt einen Weg. Der ist nicht immer schön und gerade, aber es lohnt sich, ihn zu gehen!“
Folgende (deutschprachige) Websites, Blogs, Kanäle & Foren bieten einen guten Überblick über das Thema Autismus
- 1000 Fragen zu Autismus – Der Youtube-Kanal von Dr. Brita Schirmer mit einer umfangreichen Sammlung von Fragen und Antworten.
- Autismus Deutschland e.V. – Der Dachverband der meisten Autismuszentren und Regionalverbände in Deutschland.
- AUJO.tv – Eine Videoplatform für Menschen im Autismus Spektrum und deren Angehörige.
- Ellas Blog – Leben mit Autismus – Ein Onlinemagazin mit vielen Erfahrungsberichten und nützlichen praktischen Hinweisen.
- Autismus Kultur – Ein umfangreiche Sammlung zu fast allen Themen, die Autismus betreffen.
- Elternzentrum Autismus Berlin e.V. – Die größte deutsche regionale Selbsthilfeorganisation mit vielen Veranstaltungen und einem Forum.
- Autismus-Forum-Deutschland – Ein Selbsthilfeforum von und für Eltern mit Kindern im Autismus-Spektrum (dazu gibt es auch eine große Facebook-Gruppe).
- Autismus Forum Schweiz – Ein Forum von Eltern und Betroffenen.
- Das Forum von Aspies e.V. – Selbsthilfeforum von Menschen mit Asperger Autismus.
- und viele Gruppen in Social Media, sowie lokale Selbsthilfegruppen vor Ort.
In diesem Beitrag wirst Du Antworten auf folgende Fragen bekommen:
- Was ist Autismus eigentlich?
- Welche Symptome liegen vor?
- Was bedeutet es, wenn man eine Autismus Diagnose hat?
- Wie kann man (als Eltern) am besten mit Autismus umgehen?
- Was empfinden die betroffenen Kinder?
Fangen wir also an mit ein paar Erklärungen über Autismus. Als Einstieg, damit Du erfährst, womit Du es möglicherweise zu tun hast. Als Mutter oder Vater, als Lehrer*in, Erzieher*in, Großmutter oder Großvater, Tante oder Onkel, oder einfach als Wegbegleiter. Dieser Ratgeber soll praktisch und umfänglich einen Einblick und Durchblick in das Autismus-Spektrum geben.
Eine Buchempfehlung: 1001 Ideen für den Alltag mit autistischen Kindern und Jugendlichen – ein aktueller und hilfreicher Ratgeber:
Was ist Autismus?!
Die meisten Ratgeber, Bücher, Online-Artikel fangen ungefähr so an: “Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung…”.
Diese eher technische Aussage bedeutet, dass die kindliche Entwicklung mit Autismus anders oder gestört ist im Vergleich zu normalen, bzw. “neurotypischen” Kindern.
Die Aussage lässt lässt sofort folgenden Verdacht aufkommen:
Ist Autismus eine Behinderung?
Viele Eltern haben große Sorge davor, dass ihr Kind “behindert” sein könnte. Vielleicht haben sie ein negatives gesellschaftliches Bild von behinderten Menschen. Oder der Gedanke, für ein solches Kind verantwortlich zu sein, überfordert sie grenzenlos.
Neben starker Betroffenheit verbinden wir Behinderung mit großem Leid, Ausgrenzung, Isolation und auch Armut.
Und tatsächlich ist und war dies Realität menschlicher Existenz für viele tausend Jahre. Wir Eltern wünschen uns naturgemäß für unsere Kinder Glück, Gesundheit, Zufriedenheit, Chancen(gleichheit), Erfolg, Beziehungen und Selbstständigkeit. Wie wir es uns für uns selbst auch wünschen.
Leider sieht die Realität vieler (zu vieler) autistischer Kinder so aus, dass diese Attribute für sie nicht zutreffen. Oft wird ihnen (bewusst oder unbewusst) der Zugang zur eigenen Freiheit und Entwicklung verweigert wird. Eine echte Inklusion ist leider noch Utopie.
Wie Du Autismus aus der Perspektive verstehen und lernen kannst, damit gut umzugehen, ist in diesem Buch sehr gut beschrieben:
Doch zurück zur Antwort auf die Frage, ob Autismus eine Behinderung ist. Hier muss Folgendes beachtet werden:
Behindert ist, wer behindert wird!
Dieser markante Spruch, geprägt von der Wiener Caritas trifft den Nagel so ziemlich auf dem Kopf: Behinderung ist keine Eigenschaft. Sie ist ein Zustand und zwar einer, für dessen Ursache der Betroffene nichts kann.
Der Betroffene wird allerdings behindert, nämlich dadurch, dass ihm Zugänge verweigert werden. Das mag im Falle des Rollstuhlfahrers schnell einleuchtend und sichtbar sein. Möchte dieser den Zug benutzen, benötigt er einen funktionierenden Fahrstuhl, um im Bahnhof zum Gleis zu kommen. Funktioniert dieser Aufzug nicht, oder ist er gar nicht vorhanden, ist sofort klar, warum und worüber sich der Rollstuhlfahrer (zurecht) beschwert.
Im Falle von Autisten und erst Recht von autistischen Kindern ist dies viel schwieriger zu erkennen. Wenn diese zum Beispiel erschwerte Bedingungen im Kindergarten, in der Schule oder im generellen sozialen Miteinander vorfinden, werden sie schnell (bewusst oder unbewusst) ausgeschlossen, da sie nicht “system- oder gesellschaftskompatibel” sind.
Wenn dies stattfindet, ist das ein klarer Verstoß gegen die UN-Menschenrechtskonvetion.
Die gesellschaftliche Realität ist jedoch so, dass dies stattfindet. Somit muss man bei Autismus (leider) von einer Behinderung sprechen.
Die zweite Kategorie ist rechtlicher Natur. Sie ist in Deutschland durch das Sozialgesetzbuch (SGB) geregelt.
Rechtlich: Autismus als seelische Behinderung
Im neunten Buch des SGB ist Behinderung wie folgt definiert:
“Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.”
§2 Absatz 1 SGB IX
Aus medizinischer Sicht fällt Autismus in die Gruppe der psychischen Erkrankungen. Diese sind in der sogenannten ICD 10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation) in Kapitel V (Psychische- und Verhaltensstörungen) aufgeführt. Unter der Notation F84 findet man unter “Tiefgreifende Entwicklungsstörungen” alles zu Autismus. Hier stehen die Formulierung, die so vielen Beschreibungen zu Autismus vorangehen.
Nach SGB ist es nun so, dass alle funktionalen Störungen, die auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen sind, eine seelische Behinderung darstellen. Hier kommen wir an einen wichtigen Punkt:
Das SGB unterscheidet zwischen körperlicher, geistiger und seelischer Behinderung.
Was die Behinderung bedeutet
Diese Unterscheidung scheint für Nicht-Juristen keine große Rolle zu spielen. Für Menschen mit Autismus und deren Eltern ist es jedoch von enorm großer Bedeutung bezüglich der Unterstützungen, die in Anspruch genommen werden können.
- Bei (ausschließlich) seelischer Behinderung: Zuständigkeit der Jugendhilfe nach SGB VIII durch die Jugendhilfe
- Hilfen zur Erziehung (§27 ff SGB VIII)
- Eingliederungshilfe ($35a SGB VIII)
- Bei körperlicher und / oder geistiger Behinderung: Zuständigkeit der Sozialhilfe nach SGB VII
In Deutschland ist es also so, dass Autismus als seelische Behinderung nach SGB VIII behandelt wird und somit die Jugendhilfe bzw. Jugendämter zuständig sind. In die Kategorie der Leistungen fallen zum Beispiel:
- Schulhelfer oder Schulbegleitung
- Frühförderung oder Autismustherapie
- Familien- oder Erziehungshelfer
Den damit verbundenen Bürokratie-Djungel zu bewältigen ist für viele Eltern alles andere als einfach.
Wie man mit dem Status der Behinderung umgehen kann
Wir haben in diesem Beitrag praktisch erklärt, wie man Eingliederungshilfe nach §35a SBG VIII für ein autistisches Kind beantragen kann.
Es gibt Organisationen, wie zum Beispiel die Lebenshilfe oder andere caritative Verbände, die in regionalen Beratungsstellen bei der Beantragung von Leistungen unterstützen können.
Autismus Deutschland bietet auf seiner Homepage in einer eigenen Rubrik umfassende Übersichten zum Thema “Rechte von Menschen mit Autismus” und eine bundesweite Liste mit Empfehlungen zu Rechsanwälten, die sich in der Durchsetzung von Rechten für Menschen mit Autismus gut auskennen.
Weitere Maßnahmen und Handlungsempfehlungen sind im unteren Teil dieses Artikels aufgelistet.
Nun aber zurück zum eigentlichen Thema: Was ist Autismus? Warum ist es eigentlich so kompliziert, dass man sogar in juristische Zusammenhänge eintauchen muss? Was macht das Leben mit einem autistischen Kind eigentlich aus?
Das Kind verhält sich anders (als erwartet)
Am Anfang steht der Verdacht und die Besorgnis “Es könnte etwas mit ihm/ihr sein”.
“Unser Kind ist anders als andere Kinder…”
Tpischer Satz von Eltern eines Kleinkindes mit Autismus
Diese Auffälligkeiten und Symptome in den ersten zwei Lebensjahren können auf Autismus hinweisen.
Im Alter bis zum sechsten Lebensmonat
- Sehr auffälliges Schreiverhalten (oft stundenlang und ohne Erklärung)
- Kaum oder gar kein Blickkontakt des Babys zu den Eltern
- Körperkontakt ist entweder sehr schwierig oder wird übermäßig verlangt
- Eine sehr große Körperspannung, die teilweise durch sehr ruckartige Bewegungen entladen wird
- Große Selbstzufriedenheit
Im Alter bis zum 12. Lebensmonat
- Kratzen oder schaben auf Oberflächen
- Extremes Schreien oder extreme Ruhe
- Auf laute Geräusche reagiert das Kind nicht oder es ist überempflindlich gegenüber Geräuschen
- Das Kind zeigt kein Interesse an Interaktion
- Licht und Bilder rufen eine starke Reaktion hervor
- Nach wie vor mangelnder Blickkontakt
- Verhalten von anderen wird nicht nachgeahmt (zum Beispiel Händchenspiele)
- Das Kind wirkt sehr ernst und scheint kaum Freude zu haben
- Auffäliges Schaukeln oder Wippen
- Scheinbar Absichtliches Schlagen mit dem Kopf auf Gegenstände
- Feste Nahrung wird nicht gut aufgenommen, es fällt schwer, das Kind daran zu gewöhnen
Im weiteren Verlauf der Entwicklung werden die Symptome deutlicher und können klarer gegliedert werden.
Eine komplette Übersicht über alle Autismus-Symptome kannst Du hier nachlesen.
Als Außenstehender denkt man, dass medizinisch doch alles klar geregelt sein sollte. Zumal es ja eindeutige Klassifizierungen nach ICD-10 gibt. Die Realität ist jedoch leider so, dass viele Kinderärzte mit dem Thema Autismus überfordert oder nicht genug sensiblisiert sind. Eltern (so auch wir) erleben immer wieder, dass sie mit ihren Anliegen nicht ernst genommen werden.
In unserem Fall war es so, dass unser Sohn im Alter von zwei Jahren kein Wort von sich gab. Als wir versuchten, dies mit dem Kinderarzt zu besprechen, war seine erste Empfehlung, dass wir ihm Essen und Trinken vorenthalten sollten, so dass er sich verbal äußern muss, wenn er Hunger oder Durst hat.
Diesen und weiteren Ratschlägen diese Arztes sind wir zum Glück nicht gefolgt.
Tatsächlich sind wir unserer Intuition gefolgt. Und wir haben nach der tatsächlichen Ursache gesucht. Wir wollten die Auffälligkeiten verstehen lernen
Dieses krasse Beispiel und die Tatsache, dass wir es hier erwähnen, soll Kinderärzte nicht ins falsche Licht rücken. Es gibt fantastische Kinderärzte und Kinderkliniken.
Doch die Realität ist, dass Eltern oft alleine dastehen und nicht wissen, wie sie weiter machen sollen. Ärzte, von denen man sich eine gezielte fachliche Einschätzung erhofft, kennen sich leider mit Autismus häufig zu wenig aus.
Jede Mutter und jeder Vater weiß am besten was ihr Kind braucht. Wir möchten Mut machen, dass Eltern, auch wenn sie unsicher sind, lieber eine zweite oder auch dritte Meinung einholen, bis sie Klarheit haben.
Autismus ist eigentlich eine Autismus Spektrum Störung
Ein Grund, warum der Weg zur Diagnose so schwierig ist, liegt darin, dass es viele Erscheinungsformen von Autismus gibt. Dies wird ja an der langen Liste der Auffälligkeiten und Symptome, sowie deren individuellen Ausprägungen deutlich.
Deshalb müssen betroffene Eltern weitergehen und nicht locker lassen, bis sie wirklich Klarheit bzw. eine eindeutige Diagnose haben (“Verdacht auf…” hilft hier nicht).
Zudem ist wichtig zu wissen, dass es nicht die Autisten gibt. Autismus tritt in unterschiedlichsten Ausprägungen und Schweregraden auf. Daher spricht man vom Autismus-Spektrum. Mithilfe der ärztlichen Diagnose wird festgestellt, wo auf dieser sehr weiten Skala sich das Kind befindet. Also welche Autismus-Spektrums-Störung vorliegt. Und daraus lassen sich schließlich Therapie- und Behandlungsformen ableiten.
Man unterscheidet grob drei Formen:
Frühkindlicher Autismus
Der frühkindliche Autismus fällt bereits in den ersten drei Lebensjahren auf. Eltern und Geschwister merken früh, dass die betroffenen Kinder anders sind. Vor allem das soziale Miteinander und die Kommunikation sind massiv gestört. Sich immer wieder wiederholende Verhaltensweisen oder Bewegungen fallen auf.
Asperger-Syndrom
Das Asperger-Syndrom bleibt viel länger unerkannt, als der frühkindliche Autismus. Diese Kinder entwickeln sich zunächst völlig unauffällig und fallen etwa ab dem dritten Lebensjahr durch außergewöhnliche Interessen oder gute Merkfähigkeit auf.
Daher wird der Asperger Autismus auch in der Regel deutlich später diagnostiziert. Auch Kinder mit dem Asperger-Syndrom haben Schwierigkeiten im sozialen Miteinander. Ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten sind auf sehr spezifische Interessengebiete beschränkt.
Ein Erfahrungsbericht und den langen Weg einer Mutter kannst Du hier nachlesen.
Atypischer Autismus
Diese Form des Autismus passt quasi nicht ins Schema. Damit wird entweder ausgedrückt, dass zwar die selben Symptome wie beim Frühkindlichen Autismus vorhanden sind, diese aber erst nach den ersten drei Lebensjahren auftauchen.
Dies wird ebenso in der ICD-10, Kaptiel V unter F84 genannt.
Der Begriff der Autismus Spektrum Störung wiederum wird medizinisch durch die DSM-5 geprägt. Diese ist das amerikanische Pendant zur ICD-10. Allerdings unterscheided die DSM-5 nicht hinsichtlich der drei Arten von Autismus. Sie beschreibt unterschiedliche Schweregrade in verschiedenen Kompetenzbereichen.
Die unterschiedlichen Autismus-Arten bzw. Schweregrade werden auch bei der Diagnose berücksichtigt. Alles bzgl. Autismus Diagnose, was sie bedeutet und was dafür nötig ist, kannst Du hier nachlesen.
Wie häufig tritt Autismus eigentlich auf?
Eine ganz wichtige Frage ist natürlich: Wieviele Menschen bzw. wieviele Kinder mit Autismus gibt es eigentlich? Mediziner sagen dazu Prävalenz. Dies ist die Häufigkeit des Auftretens eines Krankheitsbildes.
Wobei auch hier (ähnlich wie beim Thema “Behinderung”) man vorsichtig mit dem Begriff “Krankheit” sein sollte. Autisten sind nicht unbedingt krank, wie wir noch genauer sehen werden.
Allerdings kann man in der Statistik die gesellschaftliche Relevanz des Themas erkennen:
Aktuelle wissenschaftliche und statistische Erhebungen sagen aus, dass 1 von 59 bis 1 von 69 Kindern Autismus hat.
Das bedeutet, ca. 1,5% bis 1,75% aller Kinder sind von Autismus betroffen. In jeder zweiten Schulkasse ist also mindestens ein Kind mit Autismus-Spektrum-Störung.
Die neuesten Zahlen sind hier abgebildet:

ADDM Network 2000-2014 Combining Data from All Sites
Quelle: https://www.cdc.gov/ncbddd/autism/data.html
Schaut man sich die Tabelle genauer an, erkennt man ein Phänomen: Die Zahl der Vorkomnisse von Autismus hat sich in den letzten 15 bis 20 Jahren fast verdreifacht!
Dieses Phänomen ist Auslöser für viele ideologisch aufgeheitzte Debatten. Diese führen (leider) zu einer gewisse Abwehrhaltung gegenüber “zu frühen” Autismus-Diagnosen.
Grund dafür wiederum ist ein sehr prominentes Gerücht, dass Impfungen die Ursache von Autismus bei Kindern sein sollen. Leider werden sehr erhitzte und ideologische Debatten zu diesem Thema geführt. Wissenschaftlich lässt es sich nicht belegen, ja sogar widerlegen, wie im Video weiter unten erklärt wird.
Die Gründe für das häufige Auftreten von Autismus (Diagnosen)
Tatsächlich ist es jedoch so, dass am ehesten folgende Gründe dafür sprechen, dass eine deutliche Zunahme Autismus-Prävalenz vorliegt:
- Erhöhte Aufmerksamkeit für die Besonderheiten und Bedürfnisse autistischer Kinder. Dies geschieht durch eine breitere Berichterstattung und auch eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz.
- Gesetzliche Ansprüche bzgl. Versorgungssituation, Übernahme von Therapiekosten durch Krankenkassen und innerhalb von Schulsystemen (zunächst vor allem in den USA, mitlerweile im Zuge von Inklusion auch in Deutschland und Europa). Dafür ist eine Diagnose unbedingt erforderlich, was wiederum die statische Erfassung ermöglicht.
- Stärkere und zunehmende Umwelteinflüsse, welche autistische Symptome deutlicher erscheinen lassen.
- Größere Sensiblisierung von Therapeuten und auch Ärzten, durch zunehmende Erfahrung im Umgang mit Betroffenen.
- Die Zusammenfassung aller Autismus-Arten (Asperger, frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus, usw.) als Autismus-Spektrum-Störung mit unterschiedlichen Schweregraden (v.a. in der DSM-5).
Das Phänomen der zunehmenden Erscheinungen von Autismus wird auch in diesem TED-Talk ganz gut erklärt:
Die Ausführungen von Dr. Wendy Chung machen die Komplexität deutlich, mit der wir es bei Autismus zu tun haben. Gleichzeitig zeigt sie die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit, wenn es um die Versorgung von Kindern im Autismus Spektrum geht.
Was kann man als Eltern tun?
Die wohl wichtigste Frage, die wir Eltern haben, ist, was wir für unsere eigenen Kinder tun können, wenn wir mit einer (möglichen) Autismus Spektrum Störung konfrontiert sind.
Über mögliche Therapieformen und Interventionsmöglichkeiten sprechen wir ausführlich in diesem Artikel.
Es gibt Einiges zu tun!
Um alle nötigen Hilfen und möglichen Unterstützungen zu erhalten, sollte folgender Weg möglichst konsequent gegangen werden:
- Wenn der (offizielle oder inoffizielle) Verdacht auf Autismus vorliegt, verfolge konsequent eine Diagnose nach ICD-10 bzw. DSM-5. Diese erhält man in Fachzentren oder bei Kinderpsychologen. Näheres zum Erhalt einer Autismus Diagnose kannst Du hier nachlesen.
- Beantrage (mit vorliegender Diagnose) einen Schwerbehinderten-Ausweis beim zuständigen Versorgungsamt. Damit erhälst Du je nach Grad der Behinderung Vorteile bei der Einkommenssteuer von bis zu 1420 EUR (Pauschbetrag). Mit dem entsprechenden Merkzeichen haben Du und Dein Kind freie Fahrt im öffentlichen Nah- und Fernverkehr!
- Mit der Diagnose und dem Schwerbehindertenausweis stehen die Chancen sehr gut, dass Du für Dein Kind einen Pflegegrad beantragen kannst. Je nach Einstufung erhältst Du dann Pflegegeld von bis zu 901 EURO monatlich und zusätzliche Sachleistungen sowie Beiträge zur Rentenversicherung. Wie man einen Pflegegrad beantragt und sich auf den Besuch des MDKs vorbereitet, haben wir hier zusammengefasst.
- Mit Erhalt der Diagnose, der Einstufung zur Schwerbehinderung und zur Pflege liegen alle rechtlichen und medizinischen Einordnungen vor. Nun kannst Du bei der Jugendhilfe Eingliederungshilfe beantragen, um z.B. Autismus-Therapien oder Schulbegleitung in Anspruch zu nehmen. Das Vorgehen dazu haben wir in diesem Artikel beschrieben.
Neben den organisatorischen, medizinischen und pädagogischen Hilfen gibt es allerdings eine viel tiefere und bedeutsamere Dimension:
Die eigene Identität als Vater und Mutter für das eigene besondere Kind
Das wirklich besondere an Autismus ist, dass jeder Fall so einzigartig ist, dass wirklich nur die Eltern das eigene Kind richtig verstehen und kennen.
Dies fängt schon im frühkindlichen Alter an. Dann nämlich, wenn andere Kinder anfangen zu sprechen und das eigene Kind mit Autismus möglicherweise (noch) keine Sprache hat.
In unserem Fall war es so, dass unser Sohn erst zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr Worte benutzt hat, um seine Bedürfnisse auszudrücken.
Davor war vieles ein (von außen nicht identifizierbares) Brabbeln. Wir konnten mit diesem Brabbeln dennoch ganz gut umgehen, weil wir anhand seines (zugegeben sehr eigenartigen Ausdrucks) immer seine Bedürfnisse interpretieren konnten.
So ist er immer satt geworden, hat die richtige Nahrung aufgenommen, seine Bedürfnisse und Vorlieben beim Spielen wurden meist berücksichtigt und wir konnten ausmachen, wann es für ihn zu stressig wurde oder gar unerträglich und konnten entsprechend reagieren.
Als Mutter bzw. Vater hast Du einen besonderen Auftrag für Dein Kind
Eltern autistischer Kinder entwickeln eine unglaubliche Fähigkeit ihre Kinder zu verstehen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen. Das vermag (und versteht) auch niemand sonst.
Gleichzeitig stellt dieser Umstand uns Eltern auch vor eine riesige Herausforderung. Denn wir erleben, dass die Bedürfnisse unserer Kinder und die daraus resultierende Lebensweise und die Art, wie wir uns in der Öffentlichkeit geben, oft nicht mit einer konventionellen Art von gesellschaftlichem Leben kompatibel ist. Einige Erfahrungen dazu haben wir hier aufgeschrieben.
Unsere besonderen Kinder brauchen uns Eltern. Was wir erleben ist die Isolation, die manchmal drastischen wirtschaftlichen Einbußen und Konsequenzen (z.B. durch Wegfall eines zusätzlichen Gehalts), die verbauten Wege in Karriere, der erschwerte Zugang zum Bildungssystem, usw.
Aber es gibt eine Tatsache, welche all diese schwierigen Konsequenzen aufhebt: Wir dürfen (und müssen) die Eltern, der Vater und die Mutter sein, die unser Kind wirklich braucht. Mit aller Entschlossenheit.
Als Mutter oder Vater eines Kindes mit Autismus bist Du:
Die beste Mutter / der beste Vater, die beste Anwältin / der beste Anwalt, die beste Therapeutin / der beste Therapeut, die beste Übersetzerin / der beste Übersetzer, die beste Lehrerin / der beste Lehrer, die beste Freundin / der beste Freund, die Dein Kind haben kann.
Es gibt (leider) viele Eltern, die behaupten, dass sie in diesen Mehrfachrollen einen Konflikt sehen. Natürlich ist es in keiner Weise so gemeint, dass Eltern komplett die Aufgaben von Anwälten, Therapeuten, Lehrern, usw. übernehmen sollen.
Nur Du verstehst Dein Kind so richtig!
Aber: Es gibt keinen Menschen auf dieser Welt, der Dein Kind besser versteht und tiefere Einblicke in seine Persönlichkeit hat, wie Du als Mutter und Vater. Das trifft naturgemäß nicht ausschließlich auf Kinder mit Autismus oder anderen besonderen Bedürfnissen zu, sondern mit Sicherheit auf alle Kinder und deren Eltern.
Und doch sind die Bedürfnisse und die Eskalation der Umstände oft so gravierend, dass kaum ein anderer Mensch in der Lage wäre, die Lösung für die auftretenden Probleme herbeizuführen wie die Mutter, der Vater oder beide Elternteile autistischer Kinder.
Eltern spielen die zentrale Rolle!
Großangelegte wissenschaftliche Studien belegen deutlich, dass die Rolle der Eltern im Umgang mit ihren autistischen Kindern eine sehr bedeutsame ist. Das sogenannte FETASS (Freiburger Elterntraining für Autismus-Spektrum-Störungen) ist ein sonderpädagogisches Therapieprogramm für Kinder mit Autismus Spektrum Störung, welches die besondere Rolle der Eltern nutzt und dem Kind damit sehr effektiv Kompetenzen vermittelt.
Eltern von Kindern mit Autismus sind sehr stark herausgefordert
Es hört allerdings nicht mit den eigenen Herausforderungen auf. Wenn es darum geht Hilfen in Anspruch zu nehmen, Diagnosen zu bekommen, Therapien einzuleiten. Dann erleben Eltern in der Regel, dass es (wenn überhaupt) nur sehr langsam voran geht.
In der Regel sind die Systeme in Verwaltung, Medizin, Pflege, Schule und Kindergarten nicht auf die besonderen Bedürfnisse von Familien mit autistischen Kindern eingerichtet. Hilfe gibt es schon, nur leider viel zu wenig.
Zu erleben, dass man trotz eigener großer Not kaum Unterstützung erhält und immer wieder neuen Situation gegenüber steht, die eine Neubewertung und Entscheidung der eigenen Umstände erfordert, ist eine riesengroße Belastung. Gleichzeitig erleben Eltern oft eine enorme Hilflosigkeit, weil sie ja mit den Symptomen direkt konfrontiert sind. Ohne Zugang zu Hilfen und ohne klare Handlungsstrategien kann diese Konfrontation eine große Überforderung darstellen.
Eltern von Kindern mit Autismus erleben die stärksten und höchsten Belastungen, wie kaum eine andere Gruppe von Eltern mit Kindern mit geistiger oder körperlichen Handicaps. Nachzulesen in dieser Studie.

Tatsächlich dauert es vom ersten Verdacht bis zur endgültigen Implementierung von Hilfen mindestens drei Jahre. Der Grund dafür ist leider häufig Kapazitätsmangel und auch fehlende Sensiblisierung und Kompetenzen bei Ärzten oder Fachzentren.
Allerdings ist gerade die Frühförderung autistischer Kinder so unendlich wichtig. Hier erleben Eltern, Therapeuten und Erzieher / Lehrer einen großen Konflikt ausgehend von signifikantem Personalmangel.
Handlungsstrategien für Eltern betroffener Kinder
Was bleibt, ist, sich mit der eigenen Situation so positiv wie möglich auseinander zu setzen. Es gibt viele Möglichkeiten, was Du als Mutter und / oder Vater zu Hause tun kannst um Dein Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen.
- Richtet die häusliche Umgebung nach den Bedürfnissen Eures Kindes ein (Struktur, Ruhezonen, usw).
- Findet einen guten Weg, um mit Eurer Umgebung zu kommunizieren, dass Euer Kind besondere Bedürfnisse hat.
- Gestaltet den Alltag konsequent nach Euren familiären Bedürfnissen.
- Versucht, soviel es geht, über Autismus und Fühförderung zu lernen und umzusetzen.
- Jede(r) von Euch sollte einmal pro Woche komplett Abstand nehmen und selbst Freizeit und Ruhe gönnen.
Genaueres zur Anwendung und Umsetzung der Hilfen zu Hause kannst Du hier nachlesen.
Und was erleben die betroffenen Kinder?
Kinder im Autismus Spektrum haben nicht nur besondere Auffälligkeiten. Sie haben auch eine ganz besondere Wahrnehmung. Hier sind zwei wirklich beeindruckende Clips der National Autistic Society, welche diese besondere, intensive Wahrnehmung verdeutlichen:
Wie würdest Du Dich fühlen, wenn Du Deine Umgebung so wahrnehmen würdest, wie es in den Videos dargestellt ist?
Was autistische Menschen generell erleben, ist eine konstante Überwältigung von Reizen. Darüber hinaus führen Orientierungslosigkeit und mangelnde Struktur zu teils heftigen Reaktionen, die wir (zum großen Teil) als Symptome verstehen.
Es gibt eine interessante, universelle Studie des bekannten Hirnforschers Henry Markram. Die Intense World Theory besagt, dass Menschen mit Autismus ihre Umwelt aufgrund neurobiologischer Zusammenhänge um ein Vielfaches verstärkt wahrnehmen. Dies trifft nicht nur auf Umweltreize sondern auch auf emotionale Geschehnisse zu. Menschen mit Autismus nehmen nach dieser Theorie auch Emotionen so intensiv wahr, dass sie das überfordert und sie zu sehr drastischen Reaktionen neigen.
“Der Junge der zu viel fühlte” (Lorenz Wagner)
Henry Markram ist selbst Vater eines Jungen mit Autismus und gleichzeitig einer der bedeutendsten Hirnforscher der Welt. Seine faszinierende Geschichte ist in dem diesem wunderbaren Buch nachzulesen:
Zu diesem Buch haben wir hier eine kurze Rezension geschrieben.
Neben der Intense World Theory gibt es noch die sogenannte Theory of Mind, welche besagt, dass Menschen mit Autismus nicht in der Lage sind, Emotionen und Gefühle anderer zu verstehen, oder sich darin hineinzuversetzen. Dies ist eine sehr populäre Annahme und zugleich auch ein Vorurteil: “Autisten sind nicht fähig Gefühle auszudrücken.”
Als betroffener Vater neige ich dazu, der erstgenannten Theorie zuzustimmen. Ich erlebe meinen Sohn so, dass er sehr feinfühlig und sehr deutlich seine Umgebung und auch das Verhalten, die Gefühlsausdrücke und Motive anderer Menschen wahrnimmt.
Was bleibt?
Autismus ist und bleibt eine riesengroße Herausforderung für alle, die davon betroffen sind. Wir glauben allerdings, dass es Sinn macht, ja notwendig ist, sich dieser Herausforderung zu stellen. Wir haben die Möglichkeit, auf allen Ebenen für gute Bedingungen für betroffene Kinder und Erwachsene zu sorgen und wenn nötig, auch dafür zu kämpfen.
Ein erster Schritt ist, sorgfältig und möglichst viele Informationen zu sammeln und gut darüber Bescheid zu wissen, was Autismus ist und wie unser Umgang mit dieser Störung sinnvoll und adäquat gestaltet werden kann.
Menschen mit Autismus sind ganz besondere Menschen.
“Autisten sind anders. Sie sind eine Chance für das System, die Gesellschaft. […] Vielleicht sind Autisten die Vorhut einer Welt, die anders denkt und anders fühlt. Vielleicht bleiben sie die Ausnahme. Einer von hundert, ein Mensch wie wir, nur ein wenig anders.”
Lorenz Wagner – Der Junge, der zu viel fühlte
Diesen Menschen gute Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten zu schaffen und anzubieten, das sollte unser Auftrag und unsere – sehr lohnenswerte – Aufgabe sein!
Wie sehen Deine Erfahrungen mit Autismus aus?
Die in diesem Beitrag dargestellten Produkte sind sogenannte Affiliate-Links. Wenn du auf darauf klickst und danach bei Amazon einkaufst, erhalten wir eine Provision. Für dich verändert sich der Preis nicht und Du hilfst uns, unser Angebot weiter auszubauen, vielen Dank!
Es ist wichtig, wenn ein Kind mit Autismus eine Hilfe zuhause bekommt. Manchmal haben die Eltern auch keine Zeit, deswegen soll es noch Alternativen geben. Krankenschwester haben immer schon Erfahrungen, wie man mit solchen Kindern umgeht. Danke für die Info.